Lesung „Die nationalsozialistischen Krankenmorde und die Assoziationsanstalt Schönbrunn“

Lesung der Münchner Kammerspiele in Kooperation mit dem Franziskuswerk Schönbrunn

Dachau, Schönbrunn, 21. Januar 2022 – Gemeinsam mit dem künstlerischen Forschungsfeld „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ der Münchner Kammerspiele (MK) hat das Franziskuswerk Schönbrunn am 20. Januar 2022, dem 80. Jahrestag der Wannseekonferenz, auf die gewaltvolle Vergangenheit der nationalsozialistischen Krankenmorde zurückgeblickt. Aus historischen Akten und Täterdokumenten, aber vor allem aus Briefen und Zeugnissen von Angehörigen und Opfern – auch aus Schönbrunn – hat der Dramaturg der MK, Martín Valdés-Stauber, eine szenische Lesung entwickelt, in der ein umfängliches Bild der systematischen, staatlichen Gewalt, der menschenverachtenden Grundannahmen und individueller Schicksale rekonstruiert wurde. Dadurch stiften die Kammerspiele und das Franziskuswerk Schönbrunn ein Andenken, sie erinnern an die Opfer und würdigen sie.

Prof. Michael von Cranach, der Wesentliches zur Aufarbeitung der Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus geleistet hat, eröffnete die Lesung mit einem Impuls zur wechselvollen Erinnerungsgeschichte an die nationalsozialistischen Krankenmorde und einem Exkurs zum Inhalt und der Bedeutung der Krankenakten für die Aufarbeitung der Krankenmorde.

Die Lesung beschrieb anhand ausgewählter Dokumente die Entwicklung der Krankenmorde. Bereits 1920 haben der Psychiater Alfred Hoche und der Strafrechtler Karl Binding eine Broschüre herausgegeben mit dem Titel „Die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Darin veröffentlichten sie die Vorstellung, dass Menschen einen unterschiedlichen Wert haben. Die Broschüre entwickelte eine systematische juristische Argumentation für die Frage: “Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft allen Wert verloren hat?” Die Nationalsozialisten haben dieses Gedankengut 30 Jahre später in der Praxis umgesetzt. Täter und Planer war die christlich-humanistisch erzogene Elite der deutschen Ärzteschaft. Sie war nicht gezwungen, sich an den Krankenmorden zu beteiligen, nur wenige haben Entscheidungsspielräume genutzt. Unfassbar sind in manchen Fällen auch die Kontaktabbrüche zu Angehörigen in Einrichtungen. In einem Brief an die damalige Assoziationsanstalt Schönbrunn überlässt ein Ehemann seine Frau der Anstalt: „Nachdem ich schon 23 Jahre vor meiner Frau getrennt lebe und gar keine Besserung zu erwarten ist, … überlasse ich Ihnen meine Frau. Da Sie für Volk und Vaterland nutzlos ist.“

Die Assoziationsanstalt Schönbrunn war Teil eines Netzes von Verlegungen und Abtransporten, die fast immer zum Tod führten. Über 900 Menschen wurden von 1939 bis Kriegsende von Schönbrunn in eine staatliche Anstalt verlegt. Im Rahmen der Aufarbeitung sagte 2011 die damalige Generaloberin Sr. M Benigna Sirl: „Wir können Menschen ihre Achtung und Würde zurückgeben, wenn wir ihr Leid nicht verleugnen, sondern sie in ihrer Verletztheit annehmen und wir ihre Worte hören, damit sie nicht verstummen müssen.”

Für das NS- Regime war das Konzept der sogenannten „Volksgemeinschaft“ als „rassisch reine“ Abstammungsgesellschaft zentral. Die gesamte Sozial- und Gesundheitspolitik sollte sich am, im Vokabular der Nazis, „Erbwert“ des Menschen orientieren. Diejenigen, die als „erbkrank“ angesehen wurden, sollten durch Zwangsmaßnahmen an Heirat und Familiengründung gehindert werden, ihre Fortpflanzung sollte gesteuert werden, um züchtend auf die erbbiologische Zusammensetzung der deutschen Bevölkerung einzugreifen. In Folge des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ aus dem Jahr 1933 wurden etwa 400.000 Menschen durch Gerichtsbeschluss zwangssterilisiert, weil sie als erblich und sozial minderwertig eingestuft worden waren. An vielen Frauen wurde eine Zwangsabtreibung vorgenommen. Die Zwangssterilisationen wie auch die sogenannten „Euthanasie“-Morde gründeten auf dem Gedanken, den Wert des Menschen an seiner erbbiologischen Leistung für die Gesellschaft zu messen. Der Beginn der Krankenmorde geht auf den, auf den 1. September 1939 datierten, Euthanasie-Erlass zurück. Damit wurden die Befugnisse von Ärzten so erweitert, „dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischter Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“

„Ich will heraus“, schreibt Benno Krieger 1939 an seine Eltern. „Keinen Tag bei Leuten bleiben, die es mit Menschen nicht genau nehmen und nur meine Gesundheit ruinieren wollen.“ Benno Krieger schrieb dies nach seiner Zwangssterilisation in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar 1935. Er starb 1943 an gezielter Vernachlässigung und Nahrungsentzug mit 29 Jahren.

Nach Beendigung der Aktion T4 fand im November 1942 im bayerischen Innenministerium eine Konferenz mit den bayerischen Anstaltsdirektoren statt. Über die als Staatsgeheimnis deklarierte Konferenz berichtete ein Teilnehmer nach Kriegsende den amerikanischen Ermittlungsbehörden: „Der Direktor der Anstalt Kaufbeuren hielt dann einen kurzen Vortrag über sein eigenes Vorgehen, er sei zuvor ein Gegner der Euthanasie gewesen, habe dann aber Einblick in die offiziellen Zahlen bekommen und bedauere jetzt, daß die Euthanasie eingestellt worden sei. Er gehe jetzt in seiner ihm unterstellten Anstalt so vor, daß er den Kranken, die sonst unter die Euthanasie gefallen wären, nur eine völlig fettlose Kost verabreichen ließe, er mache ausdrücklich auf fettlos aufmerksam. Innerhalb dreier Monate gingen die Kranken daraufhin durch Hungerödem ein. Er empfehle dieses Vorgehen allen Anstalten als Gebot der Stunde.“ Daraus resultierte der sogenannte „Hungerlaß“: „Es wird daher angeordnet, daß mit sofortiger Wirkung sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht diejenigen Insassen, die nutzbringende Arbeit leisten oder in therapeutischer Behandlung stehen, ferner die noch bildungsfähigen Kinder, die Kriegsbeschädigten und die an Alterspsychose Leidenden zu Lasten der übrigen Insassen besser verpflegt werden.“

Zwei Schauspielerinnen der Kammerspiele, Emmy Rowohlt und Eva Kessler, starben 1944 im Haus 22E der Anstalt Eglfing-Haar, dem Hungerhaus. In ihren Briefen schildern beide den Hunger und den Wunsch nach gutem Essen: „…bitte ich herzlich, mir ein paar Scheiben Brot zu schicken. Denken Sie daran, daß sie damit einem hungernden Menschen helfen.“

Die Lesung fand unter der Schirmherrschaft von Bezirkstagspräsident Josef Mederer und Landrat Stefan Löwl im Dachauer Ludwig-Thoma-Haus statt und wurde auf der homepage der MK live gestreamt. Es lasen Frangiskos Kakoulakis, Anna Gesa-Raija Lappe und Stefan Merki, Text Martín Valdés-Stauber, szenische Einrichtung Felicitas Friedrich. Das Projekt wurde von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) gefördert.

Sehen Sie hier die vollständige Aufzeichnung:

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Die drei Schauspieler der Münchner Kammerspiele, v.l.n.r. Stefan Merki, Frangiskos Kakoulakis und Anna Gesa-Raija Lappe haben mit ihren ausdrucksstarken Stimmen den von Martín Valdés-Stauber zusammengestellten Text einem hochkonzentrierten Publikum vorgelesen.